Meine Arbeit „Religiöse Übung“ ist ein queerer performativer Gottesdienst. Ich habe Religion in ihrer praktischen Ausübung immer auch als eine Erinnerungstechnik verstanden, die die einer Gemeinschaft wichtigen Geschichten mitsamt ihren Erkenntnissen wiederholt und bis in die kleinsten Details für die Kontemplation erschließt, so etwa die Passionsgeschichte von Jesus Christus. Queeren Menschen fehlt eine solche Erinnerungstechnik. Häufig hat die nächste Generation die Kämpfe der vorherigen vergessen, wie u.a. im Dokumentarfilm „Mein wundervolles West-Berlin“ von Jochen Hick deutlich wird.







In meinem Gottesdienst erkläre ich wichtige Menschen der queeren Geschichte zu Heiligx, deren Lebensgeschichte mit all ihren Stationen zur Grundlange von Anbetung wird. So natürlich Marsha P. Johnson, die als transsexuelle schwarze Sexworkerin maßgeblich am Befreiungskampf der Schwulen und Lesben in den USA beteiligt war, und mit ihrer Kollegin Sylvia Rivera schon beim zweiten Christopher-Street-Day ausgebuht wurden, weil ihre politischen Forderungen den weißen Mittelklasse-Schwulen zu radikal waren. Später ist Marsha P. Johnson unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Eckpunkte ihrer politischen Biographie sollten im Bewußtsein jeder queeren Person präsent sein, weil nicht vergessen werden darf, wie zentral Sexworker, Transsexuelle und PoC im queeren Befreiungskampf waren und sind. Ähnlich möchte ich Ronald M. Schernikau betrachten, der sozialistische, an AIDS verstorbene Schriftsteller, der sich noch 1989 kurz vor dem Fall der Mauer in die DDR einbürgern ließ und dessen Hauptwerk „Legende“ erst posthum veröffentlich wurde. „Legende“ ist auch eine Inspirationsquelle für „Religiöse Übung“, da Schernikau in seinem Buch „Götter:innen“ aus der sozialistischen Vergangenheit das Westberlin der 1980er Jahre besuchen läßt und aus quasi religiöser Sicht die politischen Verhältnisse des geteilten Deutschlands betrachtet in Hinblick auf Erlösung. Auch Audrey Lorde wird zur Heiligx und zur Schutzpatronin von Berlin. Die US-amerikanische lesbische Dichterin, Aktivistin und Theoretikerin war zwischen 1984 und 1992 jedes mehrere Monate in Berlin und inspirierte u.a. mit ihrer Gastprofessur an der FU die afrodeutsche Bewegung. Sie sah Unterschiedlichkeit als eine dynamische Kraft an, die bereichernd ist und nicht bedrohllich. Ihrer aus internationalen Diskursen gespeisten starken Prägung der Berliner und deutschen Szene wird in der Performance gedacht. Bei meinen queeren Heiligx wende ich die Voodoo-Technik der Überschreibung an: Im Voodoo wurden katholische Heilige benutzt, um hinter ihnen die alten Voodoo-Gottheiten zu verbergen, so wurde Papa Legba zu St. Petrus und so fort. Daraus ergaben sich neue spirituelle Mischungsverhältnisse. Voodoo als synkretistischer Entwurf wird in „Religiöse Übung“ ernstgenommen und gerade nicht kulturell appropribiert, stattdessen entwickle ich ein eigenes zusammengesetztes spirituelles System, in dem thereoretische und politische Thesen in ein religiös-spirituelle Umfeld gesetzt werden. In „Religiöse Übung“ wird Frantz Fanon zu St. Petrus, dem Bewahrer des Schlüssels zum Paradies. Frantz Fanon, der schwarze französische Psychoanalytiker, der den Befreiungskampf der Algerier so überzeugt unterstützt, dass er sich selbst schließlich als Algerier bezeichnen kann, ist Vorbild für solidarisches politisches Handeln bis heute und für das Hervorbringen eines verantwortlichen politischen Denkens, das beginnt, die Begrenzungen der Identitätspolitik zu überwinden (Hierzu werde ich auch auf Thesen von Omri Boehm aus seinem Buch „Radikaler Universalismus“ zurückgreifen). Für diese Heiligx entwickle ich Ritualformen, die die jeweiligen Erkenntnisse der Heiligx religiös verklären. Aus den Lebensläufen der Heiligx werden Abläufe vergleichbar dem christlichen Kreuzweg destilliert, die dann von der Gemeinde wiederholt und erinnert werden können. Dabei steht kein Leidenskult im Vordergrund, wie vielleicht manchmal bei den Martyrien Jesu Christi. Es geht um eine wiederholbare, meditierbare, verdichtete Form der Lebenserfahrungen der Heiligx. Zu einem:r Heiligx gehören besondere Aufgabengebiete, für die man sie um Hilfe anruft. Für jede:n queeren Heiligx muss eine solche Anrufungspraxis erfunden werden.



Klar wird dabei, daß wir als queere Menschen eine neue Konzeption des Göttlichen brauchen. Ich habe die Idee der Divinität immer als eine Abstraktion jeder Befreiung, Öffnung, Realisierung von Potential gesehen; und gerade Queerness definiert bei José Esteban Munez als ständige zuversichtliche Öffnung auf stetig sich wandelnde Formen der Existenz muß Teil unser Idee vom Göttlichen sein: eine nicht-binäre, transgressive, lustfreundliche Macht, die das Potential hat, sich immer wieder neu der Kapitalisierung zu entziehen, und in ihrer körperlichen Erfahrbarkeit unmittelbar Solidarität erzeugen kann. Das radikale auch spirituelle Potential von denen, die außerhalb der Heteronormät agieren, liegt in der Einsicht, dass auf die Destabilisierung und Neugestaltung von Identitäten hingewirkt werden kann. Differenz ist an und für sich nicht das Problem – selbst jene Differenz nicht, die sich aus den Kategorien race, class und gender ergibt. Vielmehr ist es die Macht, die gewissen Identitätskategorien zuteil wird, und die Idee, begrenzte Kategorien, die der Herrschaft und Kontrolle als Grundlage dienen, dürften nicht überschritten werden. Das intersektionale Wesen aller Identitäten selbst soll Teil der spirituellen Praxis werden.
Dabei werden die Ausgestoßenen und die Getöteten, die an AIDS Gestorbenen und die Verkannten für immer zum Teil der göttlichen Sphäre erklärt: Angestoßen vom Umgang mit den Toten im Katholizismus, im Mami Wata Kult und im Kultus der Christengemeinschaft sollten wir die Toten ständig erinnern, und dürfen nicht vergessen, wie grauenhaft die anhaltende Gewalt gegen Queers, Sexworker, an AIDS Erkrankten und überhaupt sexuellen Minderheiten noch heute auf der Welt ist. Unsere queeren Vorfahren sind in der göttlichen Sphäre bewahrt aber nicht als schweigende Bejahung sonders als ständige Aufforderung zum Handeln und Widerstand heute.
Ich werde für den Gottesdienst neue Kirchenlieder komponieren, ein erstes ist schon fertig: „Körperlich göttlich“, ein sexpositives Kirchenlied, das das transgressive Potential der Sexualität feiert. Hier ein Auszug aus dem Text: Vereinzelt, abgeschlossen, ohne Zugang zur Welt · Allein komme ich nicht weiter · Ich kann mir eine Öffnung nicht einmal vorstellen · Allein kann ich es nicht · Doch dann kommt da etwas, verkörpert von jemand · Ich kann mir nicht helfen, es treibt mich da hin · So spontan habe ich noch nie gehandelt · Doch ich tu es jetzt, ich folge dem Impuls · Ref: Das Göttliche ist körperlich · Das Körperliche göttlich · Wer bist du bloß, wo kommst du bloß her? · Du liest meinen Körper vollkommen neu · Unter deinen Händen gerät alles in Fluss · Gerät alles in Fluss · Er hält mich in seinen Armen, seine Wärme kommt vom Körper, Fingerspitzen wie warmes Wachs · Ich fühle mich geborgen · Eine Einheit bildet sich und bildet sich um
Geplant sind außerdem eine Hymne auf die queere Schöpfung, inspiriert von Karen Barad, mit schwulen Pinguinen, mehrfachgegenderten Unterwasserwesen und einer bis in die Quantenmechanik nicht-straighte Natur, ein Sanctus, das eine queere Konzeption von Göttlichkeit beinhaltet als Erfahrungsqualität einer beständigen Öffnung auf Transformation wie bei Munez, eine Klage über das eigene Schuldigwerden beim Verharren in binären Denkmodellen und schließlich eine Lied über die göttliche Liebe als die Kraft, die jenseits aller bürgerlichen Moralvorstellungen die Menschen in der Schöpfung auffängt und ihr Begehren legitimiert.





In seinen theatralen Formen wird „Religiöse Übung“ unterschiedlichste Anbetungsformen aus Gottesdiensten benutzen, die Performance speist sich aus Formen traditioneller Gottesdienste, der anthroposophischen Christengemeinschaft, der body art, Anregungen des Künstlers AA Bronson, Alejandro Jodorowskys Psychomagie, des Voodoo und des schwulen Schamanen Daan van Kampenhout. Ein künstlerisches Mittel wird der Transport queer-theoretischer Diskurse in ein anderes Umfeld sein, daraus entsteht eine produktive Reibung, wenn die Zuschauenden eine gottesdiensthafte Situation erleben und gleichzeitig die Inhalte, die in den Liedern und Texten vorkommen, vollkommen andere sind. Die Zuschauenden werden überhaupt stark eingebunden sein, im Singen der Lieder aber auch in getanzten Prozessionen, bei denen symbolisch die Grenzen der Identitätspolitik überwunden werden sollen. Das Betreten des Theaterraums als Betreten eines utopisch-spirituellen Ortes wird von den Zuschauenden körperlich durchlebt, das eigentliche Ritual wird dann in einer sehr nahen Situation stattfinden, so dass sich eine unmittelbare Konfrontation der Zuschauenden mit dem Gottesdienst ergibt. Die Priestx führt die Zuschauenden durch z.T. bekannte Gottesdienstformen wie Gebet, Predigt und Kirchenlied, wird dabei aber auch stellvertretend für die Gemeinde rituell ausgepeitscht und gewaschen und schließlich endet der Abend in einer musikalischen Apotheose der Toten und der göttlichen Liebe. So werden Gottesdienstformen inhaltlich erweitert, gleichzeitig suche ich in der Inspiration durch spirituelle Anbetungsweisen neue theatrale Formen. In der Performance werde ich eine Priestx verkörpern, die durch unterschiedliche spirituelle Bewußtseinsstufen geht, und dafür verschiedene rituelle Handlungen vollführt. Dabei wird sie unterstützt von ihren Ministrant:innen Royce und Jesseline, die liturgische Texte mitsprechen und singen, und die Priestix auspeitschen, waschen und umkleiden. Royce ist eher dem Wort und Jesseline eher dem Gesang zugeordnet. Ein großer Teil der Performance wird der liturgische Text einnehmen, Ziel ist eine „objektive“ Performance wie im Ritual der anthroposophischen Christengemeinschaft, die pure Handlung in Verbindung mit dem Ritus-Text ist der heilige Vorgang. >Hauke Heumann (1pp1)